Jobst-Pistorius
Eva & Thomas - unser gemeinsames Leben...


Texte von Eva


Lisa und Eva am Ende der Veranstaltung des Fallada-Klubs Neustrelitz "Lisa und nur Lisa" in der Neustrelitzer Orangerie. 

Etwa 100 Gäste kamen 1995 zu dieser Lesung, bei der Lisa aus ihrem Leben erzählte und ihre Gedichte vortrug.



Mamas langer Abschied


Dieser Text ist zum größten Teil am Morgen des 9. Juli 2005 entstanden. Später habe ich nur noch Dinge hinzugefügt, die mir nicht gleich eingefallen waren oder an Formulierungen  gefeilt.
Diese nachträgliche Puzzelei hilft mir immer dann, wenn ich in ein großes schwarzes Loch falle. Insofern ist dieser Text meine ganz spezielle Trauerarbeit – und deshalb vermutlich auch noch lange nicht  fertig.
Er ist als nachträglich aufgeschriebenes Tagebuch gedacht, um diese vielleicht wichtigsten Tage in unserem gemeinsamen Leben nie zu vergessen.
Nichts von dem was hier steht ist erfunden – genau so habe ich Mamas Abschied erlebt.

Anzeige vom 7. Juli 2005
Nordkurier und Neues Deutschland:



Trennung

Ich lass ihn langsam los
den Tag, den Traum.
Ich lass ihn langsam los
den alten Baum,
will ihn noch einmal
einen Sommer haben,
an seinem Grünen mich
noch einmal laben.
Ich lass ihn langsam los
den Traum vom Baum,
ich gehe langsam bloß
aus diesem Raum,
wo mir die Frucht im Herbst
entgegenfällt.
Ich gehe langsam bloß
aus meiner Welt.

Lisa Jobst                                                          27.08.1920 - 05.07.2005


Wir sind unendlich traurig.                                                                                                                                 
Thomas und Eva, Adam und Bruno


Samstag hatten wir uns gesehen. Ich hatte ihr Babyöl für die Körperpflege, ihren Lieblingspudding aus dem Aldi und einen Strauß Rosen gebracht.
Stunden saß ich an ihrem Bett, wissend, sonst nichts tun zu können.  
Am Montagabend ruft mich Schwester Jaqueline an: Ihrer Mutter geht es sehr schlecht. Es ist besser, wenn Sie schnell herkommen.
Thomas, Bruno und ich schauen uns an. Dann packe ich einen Rucksack mit Zahnbürste und allem was man so braucht, wenn man ein paar Tage verreist.
Wir machen uns auf in die Brüderstraße – gut fünfzehn Minuten von uns entfernt.
Mama liegt im Bett und hat die Augen geschlossen. Sie atmet beängstigend leise.
Wir schlagen die Campingliege an ihrem Fußende auf.
Bruno steht am Bett und schaut schüchtern auf das Bündel Mensch, das dort liegt. Dann müssen Thomas und er los – morgen ist Schule und der Zensuren-Count-Down läuft. Am nächsten Tag wird auch Adam aus seiner Kaserne in Beelitz kommen, gemeinsam mit seiner filigranen sonst so munteren Kristin.  Auch sie stehen lange stumm am Bett.
Beiden Jungs werden Thomas und ich all die nächsten Tage immer wieder versichern: alles unverändert, um sie nicht zu beunruhigen.  Beide werden ihre Großmutter nicht wieder sehen.
Draußen tobt ein mächtiges Gewitter. Ich stehe auf dem Balkon und schaue in den Himmel, wo sich Lisas Kerle offenbar prügeln, wer sie nun kriegt, und mein eifersüchtiger Vater haut ab und zu mit einem Blitz dazwischen.   
Später zergrüble ich mir den Kopf, lausche auf jeden Atemzug und verdämmere die erste Nacht.
Am Morgen kommt Schwester Steffi, eine patente Frau mit lustigen Augen, die heute ganz traurig sind. Gemeinsam betten wir meine Mama, die immer leichter geworden ist. Wie jedes Mal bin ich erstaunt,  wie schön und duftend und appetitlich man sein kann, auch wenn man überhaupt nicht mehr aus dem Bett kommt und gefüttert, gewaschen und gewindelt werden muss. So ist das bei Mama schon seit einigen Wochen, seit der Lungenentzündung, die sie mit Hilfe von Antibiotika noch einmal besiegen konnte.  Was wir dadurch vor allem wissen ist, dass als die Männer vom Notdienst ihre Trage herein schoben, Mama die Augen öffnete und rief: Kein Krankenhaus!
Der Tag treibt langsam durchs Zimmer.  Ich liege auf meiner Pritsche, schaue auf die Uhr, die in Neustrelitz in der Küche hing und habe das Gefühl,  der Zeiger, der seine gewohnte Bahn geht, läuft rückwärts. Immer wieder stehe ich auf und gehe zum Bett. Ich halte die schwache federleichte Hand und versuche nicht zu heulen.
Ab und zu gehe ich auf den Balkon und telefoniere. Denn mir ist eingefallen, dass ich noch ein wichtiges Vermächtnis zu erfüllen habe. Und das will ich gut machen. Ich schaue auf das anatomische Institut der Uni. „Dies ist der Ort, wo der Tod freudig dem Leben zu Hilfe eilt“, soll auf Latein in vielen Sektionssälen der Welt an die Wand geschrieben stehen. Das werde ich Tage später in einem Buch übers Sterben lesen, das ich von zu Hause hole, um mir besser erklären zu können, was mit Mama  passiert. Der Satz aus dem Buch wird mich im Nachhinein in dem bestärken, was ich jetzt tue. Denn ich suche mit dem Telefon die richtige Stelle, an der Mama ihr Gehirn abgeben kann. Die sollen es hinterher haben, sollen reingucken – und vielleicht kann ich damit andren helfen,  hatte sie immer gesagt.
Sie hat eine aktuelle Vorsorge-Vollmacht, die mir bei der Entscheidung hilft, sie nicht ins Krankenhaus bringen zu lassen. Dass sie ihr Gehirn spenden will, hat sie jedoch nicht mit einer Einverständniserklärung schriftlich festgelegt. Dennoch bin bin ich mir sicher in dem was ich mache, sie hatte oft genug darüber gesprochen. Außerdem ist Lisa keine Frau der Formulare, sondern der Verse. Und da gibt es dieses Gedicht, mit dem sie die Banalität ihres Todes und das "Hinterher" beschreibt - etwas schrill und spektakulär, wie sie halt ist:

I r g e n d w a n n

Ich sterbe irgendwann an Herzversagen
das sei nicht schwierig, ginge ziemlich schnell.
Genauer könnte es ein Toter sagen.
Oder ein Sterbender eventuell?
Ich ahne, wenn das Licht mir ausgeblasen,
die Trauerschar zur Tagesordnung geht,
da werde ich im Blaulichtwagen rasen.
Für so ein Gaudi ist es nie zu spät.
Die Studiosi werden mich umkreisen,
ein Hirn zu schauen, das sie noch nicht sahn.
Sie werden dabei ein paar Witzchen reißen,
belehrend könnte ein Professor nahn.
So wird das Ganze zur Erlebnisreise:
Ob Parkinson nicht aufzuhalten wär ?
Mich wirft man dort, wo sich zerlegte Greise
mit Jungfraustücken schmücken, hinterher.

 
Endlich erreiche ich die richtige Stelle. Professor A sagt, das ist ja ein Präzedenzfall, das machen nicht viele Leute in Leipzig  und verweist mich an Professor B. Der ruft nach zwei Stunden zurück und gibt mir eine Telefonnummer in München, wo die Fäden des Forschungsnetzes  „Deutsche Hirnbank“ zusammenlaufen.  Bald ist alles für die Stunde X  organisiert, während Mama drinnen schläft. Gegen Abend ruft mich Professor A noch einmal an und fragt, ob alles geklappt hat. Ich fühle mich beschissen, aber weiß genau, dass es in der Stunde X schnell gehen muss und ich jetzt nicht einschätzen kann, ob ich das dann könnte.
Mittags rufe ich auch Olaf an, den Chirurgen, den wir aus Neustrelitz kennen.  Mit seiner Freundin Ute steht er wie ein großer Junge an Lisas Bett, streichelt ihre Hand und sagt mir, was ich eigentlich nicht hören will und dennoch erhoffe: Lisa hat’s bald geschafft.  Er telefoniert. Morgen wird Dagmar kommen.
Die Hausärztin erscheint. Alle Medikamente, bis auf das Morphiumpflaster, Schmerztropfen und die Parkinsonmedizin bei Bedarf werden abgesetzt.  Ich wünsche ihr, dass sie ruhig einschläft, sagt die Ärztin, die immer zur Stelle war, wenn es Mama nicht gut ging.
Die Nacht  vergeht im Schneckentempo. Wenn Mama nicht schläft, schreit sie, so laut sie kann – und das ist sehr leise - über Stunden: nein, nein, nein oder: ich kann nicht mehr – immer wieder.
Am nächsten Mittag kommt Dagmar mit Bert-Eugen. Sie hat aus Userin einen kleinen Stein mitgebracht, einen kantigen, den man spürt, wenn man ihn hält. Mama wird ihn bis fast zum Schluss in ihren gekrümmten Fingern halten – doch bei jedem Umbetten alle zwei Stunden werden die jeweilige Schwester oder ich ihn suchen, damit er nicht unter Mamas zerbrechlichen Steiß gerät.  Lisa hat nicht gezeigt, dass sie Dagmar erkennt, aber wir sind uns sicher, dass sie es weiß, denn bis zum Schluss wird sie mit kleinen körperlichen Reaktionen zeigen, was sie will und was sie nicht will.  
Thomas ist jede freie Stunde hier und teilt mit mir den Platz am Bett. Zu dritt ist es leichter. Seine Streicheleinheiten mit einem nass-kühlen Waschlappen auf Armen und Gesicht tun Lisa bei der großen Hitze gut.
Die Tage zerfließen zu einem zähen Brei.
Mama kämpft. Ich will nicht sterben, schreit sie über Stunden.
Manchmal ist sie aber auch ruhig und sagt: Sag allen, sie sollen brav sein. Oder: Du musst immer allen helfen. Und als ich mitten in der Nacht auf meiner Pritsche laut heulen muss, kommt sehr bestimmt ihre Stimme aus dem Bett: Weine nicht!
Ich erzähle ihr heulend, dass ich alles bedenken werde, weil wir es oft genug besprochen haben.  Dass es klappt mit der Parkinson-Forschung, dass ich ihrem Psychologen das Meißen-Gemälde bringen werde, vor dem er – geboren in dieser Stadt - bei einem Hausbesuch gerührt stand, dass das Literaturzentrum ihre und Herberts Manuskripte bekommt, weil sie bei uns nur herumstehen würden. Auch ihre Forderung: Macht bloß keinen Totenkult mit mir! werden wir erfüllen. Niemand wird in der „Leichenhalle“ eine „Leichenrede“ halten.
Stattdessen wird es ein großes Abschiedsfest mit allen Freunden in der Alten Kachelofenfabrik geben – und sie wird ganz selbstverständlich irgendwie dabei sein.
Nur dass ich am Grab nicht weinen werde, das kann und will ich nicht versprechen.
Sie hört zu und drückt kaum merklich meine Hand.    
Dann wieder schreit sie: ich will … ich will … ich will … Mama, was willst du? Ich will LEBEN!!!!  
Danach schläft sie erschöpft ein.  Vor lauter Erschöpfung kann sie nicht mehr essen und trinken.
Das ändert sich, als sich das Schichtkarussell dreht und Nachtschwester Elke kommt, laut, patent und trotzdem zärtlich. Die beiden hatten manchmal Zoff miteinander, weil Elke immer der Meinung war, nachts wird geschlafen, während Lisa nachts das Fernsehprogramm am spannendsten fand.  
Elke schaut Lisa an: Frau Jobst, Sie sehen so rosig aus, das sieht nicht aus wie Sterben. Aber wenn Sie leben wollen, müssen Sie auch was tun, nämlich essen und trinken. Das ist anstrengend, ich weiß, aber es ist Ihre Entscheidung.
Es klappt. Elke flößt ihr nach Tagen, an denen das nur tröpfchenweise ging, Tee ein und Flüssignahrung in ungeahnten Mengen. Die Flüssignahrung nenne ich Kosmonautencocktail, denn da ist alles drin, Vitamine, Ballaststoffe, viele viele Kalorien und was der Mensch noch so braucht. Elke ist zu verdanken, dass Mama, die eine Magensonde und andre lebensverlängernde Maßnahmen immer strikt abgelehnt hat, nicht verhungert und verdurstet ist.   
Von diesem Tag an allerdings wird Mama auch kein Wort mehr sagen. Die Augen hatte sie ohnehin kaum noch geöffnet. Doch sie ist rundherum ruhiger geworden. Die Phasen, in denen sie laut und unartikuliert stöhnt, werden kürzer. Ich glaube, sie weiß nun bei aller Abhängigkeit vom Waschen übers Windeln bis zum Wenden – sie wird den Zeitpunkt selbst bestimmen und hat damit ihre Stärke und Autonomie zurückbekommen.
Am Samstag ist sie so stabil, dass ich für ein paar Stunden das Haus verlasse. Ich fahre in Absprache mit den Schwestern und mit dem intensiven Zuspruch meiner Familie und meiner besten Freundin Rita für ein paar Stunden zu einem Seminargruppentreffen nach Brandenburg. Es tut so gut, mitten im Leben zu sein. Aber auch übers Sterben sprechen wir, denn einige kennen Lisa, weil sie bei unsren Feten und Silvesterreisen immer der jugendlich-weise Mittelpunkt war.
Gestärkt kehre ich auf meine Campingliege in der Brüderstraße zurück.
Ich grüße Lisa von unseren Freunden, mit denen sie so oft zusammen war und erzähle ihr auch noch einmal, dass für mich unsere wichtigste gemeinsame Reise die nach Holland war, als wir in Den Haag auf Spurensuche gingen.


Vom Hofje, das es nicht mehr gibt und von ihrer Schule, wo heute bildschöne indische Kinder herumtoben, vom Modegeschäft, in dem sie gelernt hatte und dessen neue Inhaberin sie gerührt herumführte, von Scheveningen, wo wir am Strand entlang spazierten und natürlich von der kleinen Galerie, um die wir immer wieder herumschlichen, um dann die afrikanische Skulptur aus dem Schaufenster doch zu kaufen.  Nur den Friedhof, wo  wir tatsächlich das Grab ihrer armen Mama fanden und wo ich – nach 40 Lebensjahren - meine Mama zum allerersten Mal weinen sah, erwähne ich nicht.
In der zweiten Woche geht es Mama gleich bleibend. Sie atmet ruhig, sagt kein Wort und nimmt nun auch von andren Schwestern Nahrung und Tee, so dass ich behutsam wieder anfange zu arbeiten.
Als ich von einem Recherchetermin zurückkomme und ihr das Haar kämme,  ist es locker und luftig und nicht mehr so verschwitzt  wie in der letzten Zeit. Schwester Steffi hat ihr – ich ahne nicht einmal wie  - die Haare gewaschen.  Mit fettigen Haaren  lasse ich Frau Jobst nicht gehen, sagt sie  mir.
Ich lese viel. Und weil mir außer Ach Mama manchmal nix einfällt, lese ich Lisa ihre Gedichte vor, hoch und runter und wieder hoch. So vergehen acht endlos lange Tage.
Am Montagabend beginnt Mama zu röcheln. Vorher hatte sie häufig beängstigende Atem-Aussetzer, aber Nachtschwester Elke hatte mich beruhigt: Denken Sie mal an Schnarcher, wie oft bei denen der Atem aussetzt.
Nun kann sie wirklich nichts mehr essen und trinken. Und auch nicht mehr abhusten, was sie bis dahin mit  Rückenklopfen und gutem Zureden immer geschafft hatte.  Der Schleim blubbert bei jedem Atemzug. Im Halbstundentakt kommt eine Schwester und tupft den Mund mit Kamillentee aus, damit die Schleimhäute nicht trocken werden.  Verschiedene Gesichter, alle hoch professionell und dennoch gerührt und besorgt. Lisa war in den letzten Jahren eine sehr anstrengende Hausbewohnerin, aber ihre guten Stunden voller Weisheit und Humor wissen, so glaube ich, Ines und Anke, Sigrid und Conny, Pamela und Gabi, Ute, Annett, Dagmar, Maria, die zarte Claudia, die Lisa immer Claudinchen nannte und all die andren zu schätzen.
Und auch die schweren Stunden lernten sie mit Freundlichkeit zu ertragen.
Viel später erfahre ich, dass Schwester Jaqueline, zuständig für die Medikamentengabe, an diesem Verständnis eine große Aktie hat. Von allen Mitarbeitern des Pflegedienstes hat sie wohl am deutlichsten erkannt, dass Lisas Schmerzen ohne findbare körperliche Ursache und ihre oft rücksichtslose Ich-Bezogenheit kein Mittel waren, um die Schwestern mutwillig zu tyrannisieren, sondern ein Schrei nach Aufmerksamkeit und Zuwendung. Das hat Jacqueline ihren Kolleginnen immer wieder vermittelt.
Als Mama im Sterben liegt, hat Jacqueline einen schlimmen Autounfall und ihr Sohn liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Die selbst unversehrte Jacqueline ist voller Sorge, wie es mit ihrem Nesthäkchen weitergeht – doch Lisa wird davon nichts merken. Jaqueline ist genauso aufmerksam, geduldig und liebevoll wie immer, wenn sie versucht Mama Schmerztropfen und etwas zu trinken zu geben.
Wieder lese ich Mama ihre Gedichte vor, hoch und runter und wieder hoch. Ich bin so froh, dass Steffi nicht frei hat und im Dienstplan diejenige der Schwestern ist, die sich hauptsächlich um Lisa kümmert. Denn die beiden haben ein ganz besonderes Verhältnis und kennen sich von Lisas erstem Tag in Leipzig an. Steffi gibt mir einen Briefumschlag, darin sind handschriftlich Zeilen aus einem Lied von Grönemeyer, die zu Lisa passen und ein aufgeklebtes Blümchen.

 
„Dein aufrechter Gang,
deine wahren Gedichte,
deine heitere Würde,
dein unerschütterliches Geschick,
du hast der Fügung
deine Stirn geboten,
hast ihn nie verraten,
deinen Plan vom Glück.
Hab dich sicher
in meiner Seele.
Trag dich bei mir,
bis der Vorhang fällt.“


Steffi weint, als sie Feierabend hat.
Abends kommt Schwester Elke mit Nils, der grade seine Ausbildung fertig hat und den sie in die pflegerischen Raffinessen des Nachtdienstes  einweiht. Nach der üblichen Prozedur Waschen - Windeln - Wenden sagt Elke zu ihr: Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Jobst, wir sehen uns auch morgen noch wieder. Und in spätestens einer Stunde bin ich sowieso wieder bei Ihnen.
Elke ist gerade gegangen. Es ist kurz nach zehn, die Nacht hat sich über die Stadt gesenkt und die Vögel, die es tagsüber immer schaffen, den Autolärm zu übertönen, schlafen.  
Mama atmet laut, aber gleichmäßig. Ich setze mich aufs Campingbett  und lese Zeitung.  Plötzlich macht Mama Hfffft – und der Atem setzt aus. Beunruhigt gehe ich zum Bett, denn die Atemaussetzer hatte sie seit Tagen nicht. Ich schaue meine Mama an. Ich nehme vorsichtig ihre Hand und finde keinen Puls. Es bleibt still – ich weiß nicht wie lange.
Ich zwinge mich auf den Balkon zu gehen, einen Schluck Cola zu trinken und eine Zigarette zu rauchen.
Als ich wiederkomme, liegt Mama immer noch so da. Ich rufe Schwester Elke. Sie bestätigt, was ich schon weiß. Und die immer fidele Elke heult, nimmt mich in den Arm und sagt: Sie hat heute auf mich gewartet.  
Ich rufe Thomas an. Nach zehn Minuten ist er hier.
Elke hat ihre Tränen getrocknet. So kann Ihre Mutti nicht bleiben, sagt sie. Denn Mama trägt eins von Thomas’ ausgeleierten weißen Sport-T-Shirts, genau das richtige bei der Hitze in diesen Tagen, hinten aufgeschnitten wie ein Krankenhaushemd, damit das Umziehen nicht so anstrengend ist.
Können Sie ihr etwas über den Kopf ziehen? frage ich.  Ich kann alles, sagt Elke, Hauptsache Ihre Mutti sieht gut aus.  Ich flitze nach nebenan und greife ohne lange nachzudenken ein tiefrotes Unterhemd mit Klöppelspitze, eins von den schicken verführerischen, in dem Mama ganz sicher auch verführt hat.


Und nehme genau so spontan ihren Lieblingsrock, den bunten Sommerrock mit den Schlitzen, den wir mal „Bäuerin auf Abwegen“ genannt haben.
Mit Hilfe einer Sicherheitsnadel, die viele überflüssige Zentimeter  des Bunds wegmogelt, passt er wieder. Mama sieht schön aus – wie eine Jungfer sage ich zu Elke, wenn auch eine magersüchtige.
Was ist mit den Zähnen? fragt Elke. Die unteren hat Mama immer getragen, aber die oberen hatten sich in den letzten Wochen des Öfteren selbständig gemacht und rutschten beängstigend im Mund herum. Ich hole sie aus dem Bad. Pfleger Nils rennt los und besorgt von irgendwo Gebisshaftcreme.
Große Perlenohrclips, eine Perlenkette und ein Spritzer Parfüm vervollständigen das Outfit. Elke schiebt Lisas Kinn hoch, um den noch immer offenen Mund zu schließen und fixiert ihr Tun, indem sie Mama eine Mullbinde um den Kopf wickelt, die nun das schlafende Gesicht einrahmt. Ich kämme Mamas Haare, denn die Mullbinde sieht ein bisschen doof aus. Wenn jedoch ihre wie immer widerspenstige graue Tolle elegant darauf drapiert ist, geht’s.
Schwester Elke telefoniert nach einem Arzt wegen des Totenscheins, Thomas ruft den Bestatter und ich melde in München, dass meine Mama nun in die Hirnpathologie kann. Alle drei machen wir Druck, denn wir wissen, Mamas Spende an die Wissenschaft kann nur optimal gelingen, wenn es schnell geht in dieser warmen Nacht.  
Als der Arzt gegangen ist, öffnen wir den Umschlag mit dem Durchschlag  es Totenscheins, auf dem „vertraulich“ steht. Was wir dort finden überrascht uns nicht: Fortgeschrittenes Parkinsonsyndrom und etwas lateinisches, das wir uns mit Altersschwäche und Totalverschleiß übersetzen.                       
Dann kommen die beiden Männer vom Bestattungsinstitut. Ich bin beruhigt, sie haben keinen Sarg dabei, sondern eine Bahre, die aussieht wie eine Krankenwagentrage. Hier sind zwei junge Männer, Mama, sage ich zu ihr, die nehmen dich jetzt mit, kannste noch mal Bein zeigen und lege entlang eines Schlitzes ihr Knie frei.
Der eine Totenträger guckt mich entsetzt an und deckt das Knie wieder zu, ehe er sie behutsam auf die Trage bettet. Was soll’s, er kennt sie nicht.
Thomas bringt die Mama mit den beiden Männern nach unten.
Ich setze mich aufs Campingbett, greife zum Disc-Man, lege eine CD ein und verstecke mich unter den Kopfhörern. Omega, das Mädchen mit den Perlenhaaren. Ich kann mich selbst nicht hören und so kann ich endlich heulen und schreien.
Behutsam nimmt mich Thomas mit nach Hause.  An meinen offenen Augen zieht die Nacht vorbei.
Am Morgen fahre ich planmäßig zu Dreharbeiten, dann falle ich um und schlafe.
Schnitt. Einige Tage später.  Die Anzeigen sind aufgegeben, die Urne ausgesucht. Sie ist aus Keramik, sehr elegant,  flammendrot und wunderschön marmoriert. Sie würde ihr gefallen.
In den letzten Tagen habe ich pausenlos am Telefon gehangen, mich trösten lassen, aber auch ferne Freunde getröstet: sie hat’s geschafft.
Die meisten finden es toll, ihr weit weg vom Grab ein Fest zu geben und nicht mit betretenen Gesichtern auf dem Friedhof zu stehen. Den Pikierten kann ich nicht helfen - und will es auch nicht.
München sagt, die Neuropathologie in Leipzig, wohin die Bestatter Lisa gleich in der Nacht gebracht hatten, hat hervorragend gearbeitet – das Material war taufrisch, ist bereits präpariert worden und zurzeit in der histologischen Untersuchung. Die Dame in München zollt Mama noch einmal Respekt für die Entscheidung, ihr Gehirn zu spenden.
Am Samstag stehe ich um fünf Uhr auf, denn ich will auf der Internetseite des Nordkurier  lesen, was Sakowski zu sagen hat. Ich bin glücklich, denn Mama kennt diesen Nachruf schon. Es ist  - leicht gekürzt - seine Laudatio zu ihrem 80. Geburtstag, als sie so schön und quicklebendig und verliebt war und von der ganzen Stadt gefeiert wurde. Oft hatten wir gemeinsam darüber gelacht, dass sie gar keine Leichenrede mehr braucht – sie hat sie schon zu Lebzeiten hören dürfen.
Dann stolpere ich über den letzten Satz, denn der ist anders als im Original:
„Nun müssen wir hören, daß sie in Leipzig verstorben ist. Wir neigen uns und sind getröstet, weil uns ihre Verse bleiben und die Erinnerung an das Lächeln der Lisa Jobst.“
Mir brechen die Knie  weg, obwohl ich sitze.  Ich öffne mein Schreibprogramm und während ich unsren langen schweren Abschied protokolliere, trocknen mir langsam die Tränen - vorerst.
In ihren Papieren finde ich später ein Gedicht, das ich noch nicht kannte:

Frühjahrsputz
Den Kandelaber habe ich geputzt
und rosa Kerzen in ihn eingestellt,
ich wünsche mir, daß ihr ihn auch benutzt,
wenn ich gegangen bin aus dieser Welt.
Das Fest war gut, es hat sich voll gelohnt
denkt nicht in Traurigkeit an mich zurück,
ich habe meine Liebe nie geschont,
auch euch begleitet sie nun noch ein Stück.
Wenn ich alleine durch das Weltall weh,
als grauer Rauch vielleicht ein Fähnchen bin,
dann tut mir ganz bestimmt auch nichts mehr weh,
und irgendwann folgt ja auch ihr dahin.



Lisas und Herberts Grab auf dem Friedhof Neustrelitz. "Der Findling" ruht unter einem Findling, der Spruch auf Lisas Grabplatte ist einem ihrer Gedichte entnommen und lautet: "Ich habe Fieber nie gemessen wenn ich im Feuer stand"


M e i n e r   T o c h t e r
Auch wenn ich zu Ende bin,
wird die Sonne scheinen.
Leg mich in die Erde hin,
ohne drauf zu weinen.
Deck mich mit dem Lächeln zu,
das ich dir gegeben
als ich dich geboren. Du,
laß es weiterleben.


Wir haben alle Wünsche, die Lisas Beisetzung betrafen, erfüllt. Auch die Sonne hat mitgespielt - es war ein wunderschöner Tag. Insgesamt nur sieben Menschen in auftragsgemäß sommerlich-bunter Kleidung haben ihre Urne zu der Herberts auf den Neustrelitzer Friedhof gebracht. Es gab keine Kränze, nur sommerlich-bunte Blumen. Ebenso auftragsgemäß ist es uns gelungen, nicht zu weinen.  Genau einen Monat später haben wir mit etwa 100 ihrer Freunde und Bekannten ihren 85. Geburtstag gefeiert, fast so, als wäre sie dabeigewesen. Fast so, als wäre es solch ein sommerlich-buntes Spektakel wie ihr 80., fünf Jahre zuvor.

Zu Lisas 80. Geburtstag  wurde ein großes Fest in der Basis-Kulturfabrik Neustrelitz gefeiert. Ganze Menschenmas- sen waren gekommen - auch unser Freund und Lehrer Peter Hoff wollte Lisa persönlich  gratulieren. Die beiden kannten sich von vielen Feten und Reisen mit  unseren Freunden.

 
===============================================================



Nachruf für Peter Hoff



Unser Freund und Lehrer Dr. Peter Hoff verstarb für alle überraschend am 27.9.2003 im Alter von 61 Jahren bei einer wissenschaftlichen Tagung rund ums Fernsehen in Hamburg. Er war Theaterwissenschaftler , Film- und Fernsehwissenschaftler und unser Dozent für Fernsehgeschichte an der HFF Potsdam-Babelsberg. Nach "unserer Zeit" wurde er für einige Zeit Fachrichtungsleiter Regie an der Schule. 


Peter als Gast meines 40. Geburtstages

Juni 1997


Hinten sitzen (links ) meine Kollegin Heidrun Noske (siehe "Eva im TV" - Feuerpatrouille) und meine Mama Lisa.


Peters Tochter Nici bat mich, für die Abschieds-Feier, die ihm zu Ehren an der Humboldt-Universität ausgerichtet  wurde, meine Gedanken über Peter vorzutragen.
Diese traurige Aufgabe nahm ich gern an - und veröffentliche den Text hier, um auch auf unserer Homepage Peters zu gedenken,
damit Peter der gute Freund, der originelle Lehrer und nicht zuletzt der scharfzüngige Kritiker und wichtige Film- und Fernsehwissenschaftler ( wohl nur wenige wußten und wissen so viel übers DDR-Fernsehen wie er )  nicht in Vergesenheit gerät. 

     

Wie sich Peter diesen Tag wohl wünscht ?

Schließlich sind sich ganz bestimmt auch die hartgesottensten Atheisten unter uns einig, dass er irgendwo auf ner Wolke sitzt und mit unerbittlichem Kritikergespür zuhört und zuguckt.
Allerdings hat er meines Wissens nie Veröffentlichungen, Auftritte oder Filme von Freunden verrissen – eher hat er dann so getan, als hätte er die Sendung verpasst...
Insofern können wir auf Gnade hoffen – auch wenn wir wie in einer blöden Soap herumheulen sollten.    
Den Peter kannte ich nun 23 Jahre – genau die Hälfte meines Lebens hat er mich begleitet.
Damals, im Herbst 1980 saßen ihm drei mehr oder weniger verschrobene Kerle und 11 mehr oder weniger verwurschtelte Weiber an der Babelsberger HFF gegenüber und wollten FiWis werden. Er war ein Mann von Mitte dreißig und gar nicht so selbstsicher wie er uns am Anfang erschien.
12 von uns hat er dann als Seminargruppenberater tatsächlich zum Diplom als Film- und Fernsehwissenschaftler gebracht.
Ich hab mal ins Internet geguckt: Fast alle von uns habe ich dort wiedergefunden. Sie haben ihren Platz gefunden und tun in irgendeiner Weise etwas Sinnvolles.  
Sein Fach war die Fernsehgeschichte – und zum Teil hat er uns mit recht drögen Produkten  des DDR-Fernsehens traktiert.
Doch unterm Strich war der Blick ins Medium ein Blick in die Gesellschaft, die davon mehr oder weniger verzerrt dargestellt wurde. Dafür hat er unsren Blick  geschärft.
Er wusste, dass unser Studium – so wie es angelegt war – viel zu theoretisch war. Aber sicher nicht nur mich hat er gelehrt, Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden und das Studium als Sammelbehälter für ein gerütteltes solides Maß an Allgemeinbildung zu begreifen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.
Und mit allem was dazugehört.
Dazu gehörte zum Beispiel das verhasste ZV-Lager, die paramilitärische Ausbildung für Mädchen und ausgemusterte junge Männer, ohne die es in der DDR kein Diplom gab. Er hatte alle Weibsen und wenige Männer unsres Studienjahrs an der Backe – ungefähr dreißig mit militärischem Drill nicht zu disziplinierende Individualisten und Individualistinnen.
Es wäre die Hölle gewesen ohne Peters Marschbefehle zum nahegelegenen Waldsee, wo wir splitternackt, aber vorschriftsmäßig mit Koppel und Käppi versehen das richtige Grüßen übten – oder seine Exerzierübungen: „Und neun und acht und zehn und vor zurück zur Seite ran.“
Nur dem stets stark erhöhten Alkoholspiegel unsres kommandierenden Hauptmanns war es zu verdanken, dass wir nach dem Abschlussappell nach 5 Wochen ungeschoren nach Hause durften: Denn bei besagtem Appell trugen wir aufs Peters Befehl die Stiefel verkehrt – den rechten am linken Fuß, den linken am rechten Fuß. Wie die Entchen watschelten wir so im Exerzierschritt auf den großen Appellplatz – zwischen hunderten Studentinnen des Gartenbaus und der Ökonomie, die die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Heimat viel ernster nahmen als wir.  
Nicht nur dieser Blick ins richtige Leben war dank Peter erträglicher.
Blicke ins Leben hat er auch immer damit möglich gemacht, dass er jede Art von Engagement außerhalb des Studiums unterstützt hat. Ein Antrag auf Freistellung vom Unterricht wegen praktischer Arbeit bei Film oder Fernsehen war bei ihm nie ein Problem.  
Später dann hat Peter viele Hauptprüfungs- und Diplomarbeiten von uns betreut.
Das ging nicht ohne Zoff ab. Nicht nur ich habe zwischenzeitlich Peter als Mentor abgelehnt. Ich übrigens sogar richtig offiziell mit Brief an die Fachrichtungsleitung „wegen eines gestörten Vertrauensverhältnisses“.
Das hing vielleicht damit zusammen, dass er längst nicht mehr nur Lehrer, sondern auch Freund war – und dennoch nicht wie sich das unter Kumpels gehört, die Hühneraugen zudrückte, wenn man Schwachsinn schrieb oder dachte.
Aber das hat er immer sauber getrennt.     
Erst mal war das Pech. Aber unterm Strich geht es vielleicht nicht nur mir – die sich natürlich mit Peter wieder „versöhnt“ hat – so, dass ich die mir heute weniger peinlichen Stellen meiner Diplomarbeit Peter zu verdanke.
Und weil er längst nicht nur mehr Lehrer sondern auch  Freund war, wurde er auch bei Liebeskummer und andren Katastrophen herangezogen. Verknallt, aber völlig verunsichert, obs passt, hab ich ihn um Rat gebeten, als ich meinen Thomas kennenlernte, weil keiner unsrer andren Freunde uns mehr als drei Wochen gab. „Der ist gut, der Junge, den kannste behalten“, war sein Tipp, den ich nun seit über zwanzig Jahren beherzige.
Als ich stolz das erste Mal unsern Erstgeborenen präsentierte, sagte er „na, haste endlich abgeferkelt?“. Das war der Start einer Art Patenonkelschaft für unsre Kinder.    
Tja, dann war das Studium vorbei. Aber dennoch trafen sich immer wieder ein Haufen Leute unsrer Jahrgänge in Marzahn. Nicht grade alle verwurschtelten oder verschrobenen Fiwis vom Anfang meiner Ausführungen, aber viele andre, bei denen einfach die Chemie stimmte. Und viele andre alte und neue Freunde Peters, die man einfach so bei ihm kennenlernte.
Saßen da am 1. April ( clevererweise ein Datum, das man nicht vergessen kann ) in Peters winziger Wohnung und schwammen auf einer Welle, die so nur Peter herzustellen wusste. Aßen uns an Peters kulinarischen Kreationen dick und rund, wohl wissend, wie wir am nächsten Morgen nach Knoblauch stinken würden.       
Das wirklich kuriose dabei ist: Er hat nie eingeladen. Er hat nie angerufen. Er hat nie Briefe geschrieben.
Andre Freunde gehen bei so viel Passivität irgendwann verloren. Peter nicht. Auch wenn er nie um unsre Freundschaft gebuhlt hat – er war da, wenn wir ihn brauchten.  Mit gutem Rat und auch mit Tat.
Und wir alle waren wiederum da, wenn er uns brauchte. Ich denke mal, viele von uns, die heute hier sind, haben mit an dem Strang gezogen, der ihn nach seinem unschönen Abgang von der HFF wieder aus dem seelischen Sumpf holte, in dem er damals steckte.
Letztendlich hat ihn aber die Arbeit gerettet.
Wir haben uns, jeder für sich, aber irgendwie wir alle, die wir hier sitzen gemeinsam, gefreut, als es wieder aufwärts ging.
Standard der morgendliche Blick auf die Feuilletonseite des ND, andres erfuhr man per Telefon oder man traf ihn in Form eines neuen Buches auf der Messe in Leipzig.      
Zwei mal ist er mit einer großen Truppe von uns sogar verreist: Silvester 99 / 2000 und dann gleich noch mal ein Jahr später, als rein rechnerisch das neue Jahrtausend erst richtig begann.  In tschechischen Pensionen mit DDR-Jugendherbergsniveau haben wir gelacht, getrunken und philosophiert und Peter ist stundenlang mit uns durch den böhmischen Schnee und durch Prag gewandert. Seine bildhauerischen Talente zeigten sich beim Schneemannbau – allerdings waren seine Skulpturen nie ganz jugendfrei.  
Wie Nici, seine Tochter, mir sagte, waren das die einzigen Urlaube, die er sich in all den Jahren gegönnt hat.   
Ein wichtiger Wechsel war der in die neue Wohnung. Das war nicht nur ein Umzug, das war das deutliche Signal: ich bin wieder da, ich will noch mal.  
Neben vielen andren haben auch meine Familie und ich mit angepackt. Und ich kann bestätigen, was viele vielleicht lange ahnten: Peter war ein Messie wie er im Buche steht. Um jede alte Untertasse, die längst ihr Oberteil verloren hat, hat er gekämpft wie ein Löwe.
Jeder Zeitungsschnippel, jede alte Broschüre wurde liebevoll verpackt.
Als wir dann nach getaner Arbeit alle miteinander in der neuen Wohnung saßen und sich zeigte, dass da noch viel mehr Freunde reinpassen als in die alte, wussten wir irgendwie, dass dieser Messie vor allem Menschen sammelte, versammelte, um sich scharte, um mit ihnen zu reden, zu streiten und es sich mit ihnen gut gehen zu lassen.
Also möchte ich eigentlich sagen: auf nach Marzahn. Ich ruf Peter an, dass wir alle kommen und dann gibt’s Gebratenes und Gesottenes. Rotwein und Wasser bringen wir mit, damit Peter nicht so viel schleppen muss..

54 13 902.

Wenn er den Hörer abnimmt, wird er auf unvergleichliche Weise „Hoff“ sagen. So leicht fragend mit der Stimme nach oben und einem kleinen Lächeln, das mitklingt. „Hoff“ heißt: Ich bin da. Und wer ist am andren Ende? Komm, lass uns quatschen.
Wir haben uns in den letzten Jahren auf oft übers Sterben unterhalten.
Denn sein Körper hat dem Workoholic mehrfach deutlich Signal gegeben, dass es eigentlich so nicht mehr weitergeht.
Peter wusste also, wovon er redet – schließlich war er schon ein paar mal fast auf der letzten Reise. Es soll schön sein da drüben, hat er mehrfach glaubhaft versichert.
Und sah dem letzten Trip eigentlich sehr gelassen entgegen. Dass seine Lebensreise im ICE und nicht im Bummelzug stattfand, war von ihm ausdrücklich so gewollt.
Aber der ICE kommt halt schneller an...   
„Aus dem Leben gerissen“ ist so eine blöde Floskel. Aber eigentlich ist es das Ende, das wir uns alle wünschen. Und das auch er sich gewünscht hat. Dass so etwas immer viel zu früh passiert, gehört leider dazu.
Mit solch banalen Dingen habe ich versucht, mich über die letzten Wochen zu trösten.
Aber mein Gefühl – und so geht es uns bestimmt allen - sagt mir:
Es ist alles ganz anders. Blöderweise ist  Peter ausgerechnet heute einfach nicht da, versäumt seine eigne Party. Wieder mal auf Vortragsreise, in einer seiner Unis oder im Verlag.


Für immer weg ist er auf jeden Fall nicht. Denn das ist er erst, wenn keiner mehr seine Bücher liest und wenn niemand mehr seine wissenschaftlichen Arbeiten braucht. Und vor allem: wenn wir nicht mehr an ihn denken.


Und das passiert so bald nicht. 

Das weiß ich ganz genau.